Vom Kaiser zum König – Rocherath-Krinkelt in den 1920er und 1930er Jahren
Wechsel und Wandel
Unser Kalender mit alten Fotografien aus Rocherath-Krinkelt ist der 14. seiner Art in Folge. Ausgangspunkt ist dieses Mal die 100-jährige Zugehörigkeit der ehemaligen preußischen Kreise Eupen und Malmedy und des ehemals neutralen Moresnet zu Belgien. Wir haben versucht, aus verfügbaren Fotos eine aussagekräftige Auswahl zu treffen, um auf verschiedene Entwicklungen einzugehen, die direkt oder indirekt mit dem Staatenwechsel in Verbindung stehen. Dabei fällt unser Blick auch auf Schritte hin zu modernen Lebensstandards, die heute selbstverständlich erscheinen.
Der Aufmacher „Vom Kaiser zum König“ verweist auf einen wenig thematisierten Aspekt des Staatenwechsels: Statt des seit Kriegsende im Exil lebenden Kaisers Wilhelm II. hieß das Staatsoberhaupt nun König Albert I. Somit kann man sagen, dass die betroffenen Menschen, abgesehen von den ersten Monaten nach dem Weltkrieg, Untertanen eines von Monarchen regierten Landes blieben.
Doch die damalige Bevölkerung in Eupen-Malmedy war seit rund 50 Jahren vom Geist eines preußischen Hurra-Patriotismus durchdrungen. Sie konnte sich nicht ohne Weiteres damit abfinden, als Kriegspfand dem belgischen Königreich anzugehören. Die meisten Männer hatten „für Kaiser und Vaterland“ gedient; viele waren für das Deutsche Reich im Krieg gefallen. Doch auch den belgischen Behörden war bewusst, dass es mindestens eine Generation lang dauern würde, ehe sich die neuen Bürger als Belgier fühlen würden.
Als Anfang 1919 offensichtlich wurde, dass die hiesige Region belgisch werden sollte, startete im März ein verzweifelter Versuch, mit einer Unterschriftenaktion – ein damals ungewöhnlicher Vorgang – „Einspruch gegen eine Loslösung vom deutschen Reiche“ zu erheben, die man als „gewaltsame Angliederung an einen fremden Staat“ empfand. In Rocherath-Krinkelt unterzeichneten Pastor und Lehrkräfte als Erste; ihnen folgten Vertreter fast aller Haushalte: Insgesamt 530 Personen brachten hier zum Ausdruck, „Deutsche bleiben“ zu wollten. Im Kreis Malmedy wurden so in kürzester Zeit rund 8.330 Unterschriften zusammengetragen. Ob sie den Adressaten, die Nationalversammlung in Weimar, erreicht haben, ist nicht bekannt. Nach Unterzeichnung des Versailler Vertrags war dann allen klar, dass eine neue Zeit und eine ungewisse Zukunft anbrechen würde.
Mit Inkrafttreten des Friedensvertrags am 10. Januar 1920 entstand für eine Übergangsphase das „Gouvernement Eupen-Malmedy“, das einem mit weitreichenden Befugnissen ausgestatteten „Gouverneur“ unterstand. Die belgische Regierung hatte hierfür einen königlichen Hohen Kommissar bestimmt, der der deutschen Sprache mächtig war: Herman Baltia, ein bewährter Armeegeneral, wurde beauftragt, die neubelgischen Gebiete und ihre Bewohner nach und nach in das belgische Rechtssystem einzubinden. Hierbei durfte er autoritär vorgehen. Die Autonomie der Gemeinden wurde beschränkt und die Presse zensiert. Die im Versailler Vertrag vorgeschriebene „Volksbefragung“ führten seine Distriktkommissare in Eupen und Malmedy so durch, dass sie sehr positiv für Belgien ausfallen musste. Nur in den beiden Kreisstädten konnte man sich eintragen, um sich für einen Verbleib in Deutschland auszusprechen. Wer dies tat, wurde schikaniert und musste Gerüchten zufolge eine Ausweisung fürchten. So trugen sich schließlich nur 271 Personen ein, davon 62 in Malmedy. Drei Monate nach Abschluss der „Volksbefragung“ wurde Baltia zum Baron geadelt.
Manche Personen versuchten, die Verlegung der Grenzen zu nutzen. Während einige am kleinen bis großen Schleichhandel beteiligt waren, versuchten andere, das politische Geschehen mitzugestalten, darunter auch der Rocherather Pfarrer Cafitz. In kurzer Zeit nahm er einen belgischen Patriotismus an und knüpfte ein Beziehungsnetz zur neuen Obrigkeit. Anfang März 1920 wurde er Mitglied der sechsköpfigen „Distriktdeputation“ von Malmedy (entsprach dem ehemaligen Kreisausschuss). Im Juni 1921 verlieh ihm König Albert I., als er das Lager Elsenborn aufsuchte, eine Auszeichnung des Leopold-II-Ordens. Als der Hohe Kommissar einmal die neue Gemeinde Rocherath besuchte, soll laut Überlieferung statt des Bürgermeisters der Pfarrer eine Ansprache gehalten haben, „zu der hier kein anderer fähig war“. Diese Nähe zu den Behörden missfiel manchen Priesterkollegen, die sich eher neutral verhielten. Eine sogar mit Fahnen an Kirche und Pfarrhaus demonstrierte „große Belgienfreundlichkeit“ des Pfarrers stieß auch bei Pfarrangehörigen auf Kritik. Aufkommende Gerüchte über ein Verhältnis veranlassten ihn dann Anfang Januar 1929 zum Weggang ohne Verabschiedung.
Derweil war die Gemeinde Rocherath bemüht, ihre Dörfer zu gestalten und aus einer gewissen Rückständigkeit zu holen. Dennoch erhielt Rocherath-Krinkelt erst 1933 eine Stromversorgung und 1934-36 ein modernes Leitungsnetz für Trinkwasser. Bis dahin wurde der technologische Fortschritt, der sich seit Anfang des Jahrhunderts angekündigt hatte, immer präsenter: Erste Telefone hielten Einzug, erste Maschinen erleichterten den Alltag, erste Autos eroberten die Straßen usw.
In den 1930er Jahren belastete eine Spaltung zwischen „Probelgiern“ und „Prodeutschen“ das Zusammenleben in Neubelgien. In Rocherath-Krinkelt war am Ende die staatstragende und somit probelgisch denkende Bevölkerung in der Mehrheit. Dafür waren die prodeutsch Gesinnten umso lauter. Deren Sehnsucht nach einem idealisierten Großdeutschland schien sich mit der Annexion im Mai 1940 zu erfüllen, doch entpuppte sie sich bald als tragische Illusion. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die Geschichtsgruppe Rocherath-Krinkelt